Digitalisierung
28.02.2022
„Sind wir auf der Welt, um unser Leben am Handy zu verbringen?“
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Interview mit Dr. Daniela Otto, Expertin für Digital Detox
Die zunehmende Digitalisierung bestimmt immer mehr unseren Alltag. Die ständige Erreichbarkeit bringt allerdings auch negative Begleitumstände wie Stress mit sich. Digital Detox-Expertin Dr. Daniela Otto predigt keinen unrealistischen Totalverzicht, sondern rät zur richtigen Balance aus digitaler und analoger Welt.
TT-DIGI: Frau Otto, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Digital Detox. Wie definieren Sie den Begriff?
Daniela Otto: Übersetzt heißt es ja „digitale Entgiftung“ und die Dosis macht eben auch bei der Handynutzung das Gift. Digital Detox heißt nicht, dass wir nicht mehr online sein dürfen – es bedeutet, dass wir bewusst online gehen, digitale Medien selbstbestimmt nutzen und in einem gesunden Maß, das uns guttut. Es ist somit viel mehr als nur eine digitale Auszeit: Es ist ein ganzes Mindset, ein neues Bewusstsein, das wir dringend brauchen, wenn wir gesund bleiben wollen. Handysucht ist weltweit ein enormes Problem, das vielleicht größte kollektive Suchtproblem, das wir haben – und im digitalen Zeitalter ist Digital Detox einer der wichtigsten Schlüssel zur mentalen Gesundheit.
TT-DIGI: Ihr erstes Buch zum Thema erschien 2016. Welche Veränderungen beobachten Sie seitdem?
Daniela Otto: Die Bildschirmzeiten sind vor allem während der CoronaPandemie explodiert. Inzwischen verbringen wir täglich im Schnitt 3,7 Stunden nur am Smartphone, oft sitzen wir bis zu elf Stunden am Tag vor unterschiedlichen Bildschirmen. Stichwort Dosis: Das ist zu viel. Die toxischen Auswirkungen auf die Seele bleiben nicht aus: Die Depressionsraten steigen, Ängste und das Gefühl, isoliert zu sein, nehmen zu. Der Konkurrenzdruck in sozialen Netzwerken ist zudem enorm gestiegen, hier gibt es ganz neue Krankheitsbilder wie z.B. die Snapchatdysmorphophobie. Darunter versteht man das Phänomen, dass sich immer mehr Menschen, vor allem junge Frauen, ohne virtuellen Beauty-Filter nicht mehr schön finden. Und natürlich bringt die neue Homeoffice-Kultur ganz neue Herausforderungen mit sich: Das Private und Berufliche verschwimmt zusehends, mit allen Vorund Nachteilen.
TT-DIGI: Heißt mehr Vernetzung, mehr Digitalisierung, auch automatisch immer mehr Stress?
Daniela Otto: Solange wir nicht lernen, die neuen Technologien achtsam, zielgerichtet und sinnvoll zu nutzen, werden sie die Seele überfordern. Dabei ist mir wichtig, keinen weltfremden Totalverzicht zu predigen. Natürlich gehören heute Smartphones zum Leben dazu und in der Digitalisierung liegen große Chancen. Allerdings muss auch erstmal alles funktionieren. Solange das WLAN noch ständig zusammenbricht und virtuelle Meetings wie moderne Séancen anmuten, bei denen man in die Leere fragt, ob jemand da ist oder einen hören kann, ist Stress programmiert.
TT-DIGI: Ihr Buch beginnt mit einem Appell. Warum brauchen wir mehr Digital Detox?
Daniela Otto: Sind wir wirklich auf der Welt, um unser Leben am Handy zu verbringen? Im Herzen weiß wohl jeder, dass die Antwort Nein lautet. Doch genau das tun wir: Wir verschenken unser Leben an Bildschirme. Wir schöpfen es nicht mehr voll und ganz aus, wir sind nie mehr ganz hier, sondern ständig abgelenkt. Wer aber das Leben spüren will, muss das Handy weglegen, denn durch einen Bildschirm hindurch können wir es nicht berühren. Es geht mir um so viel mehr als nur darum, dass wir alle wieder den Ausschalter finden
Digital-Detox-Tipps für jeden Tag:
- ››› Digital-Detox-Starter-Kit: normale Uhr, normaler Wecker, normaler Kalender und normale Kamera
- ››› Tägliches Limit für Bildschirmzeit
- ››› Persönlichen Interaktionen den Vorzug zu geben: Ein Treffen ist besser als ein Telefonat, ein Telefonat besser als eine Mail finden.
Es geht mir darum, dass wir einander wieder tiefer, von Seele zu Seele begegnen. Dass wir die Wunder um uns herum wieder erkennen – denn die Welt wurde gewiss nicht als Selfie-Hintergrund erschaffen. Hinter dem Vernetzungsboom steckt ja eine ganz tiefe Ursehnsucht: die zutiefst menschliche Sehnsucht nach Verbundenheit. Und wir müssen endlich erkennen, dass die Menschen, die wir lieben, nicht in einem Telefon sind, sondern in unserem Geist und in unseren Herzen.
TT-DIGI: Sie verbinden Digital Detox mit Achtsamkeitsübungen. Warum lassen sich diese beiden Punkte so gut kombinieren?
Daniela Otto: Es ist eine ideale Kombination und ich freue mich, dass mein Buch das erste Buch ist, das diese beiden Ansätze zusammenführt und damit hoffentlich vielen Menschen Wege zu einer neuen Balance zwischen online und offline aufzeigt. Achtsamkeit bedeutet ja erstmal ganz buchstäblich, dass wir gut darauf achten, was wir tun und wie wir es tun. Wenn wir einen Atemzug innehalten, bevor wir das Smartphone in die Hand nehmen und uns die kleine Frage stellen: „Warum benutze ich jetzt mein Handy?“ wird uns auffallen, dass wir oft gar keinen Grund dazu haben. Ich habe viele Übungen entwickelt, die zu einem ganz neuen Bewusstsein für die eigene Mediennutzung führen. Und dieses neue Bewusstsein kann am Ende das ganze Leben verändern, das viel zu oft von dieser kleinen Maschine dominiert wird.
TT-DIGI: Verbundenheit und Digitalisierung sind keine Gegenpole. Wie gelingt die „gesunde“ Mischung?
Daniela Otto: Indem ich die Selbstfürsorge an erste Stelle setzte. Gerade in sozialen Netzwerken sollten wir darauf achten, nur Accounts zu folgen, die uns guttun. Vergleichen macht nachweislich unglücklich und leider vergleichen sich auf Social Media alle ständig. Hier ist es wichtig, dass wir uns von Fremdeinflüssen lösen, uns wieder bewusst machen, dass der Selbstwert nicht von Klicks, Likes oder Followern abhängt.
TT-DIGI: Warum ist der analoge Augenblick aus ihrer Sicht „magisch“ und wie gelingt es uns, diesen besser zu erleben?
Daniela Otto: Wenn wir ganz im Hier und Jetzt sind, können wir eine Präsenz und eine Wesentlichkeit erfahren, die wunderschön ist. Im gegenwärtigen Moment ist ja meistens alles gut. Es sind doch die Sorgen um die Zukunft oder die Vergangenheit, die uns leiden lassen. Wer den ganzen Tag nur in seinen Bildschirm starrt, wird selbst affektstarr: Er kann sich nicht mehr emotional einschwingen in den Zauber dieser Welt. Digital Detox ermöglicht einen Perspektivwechsel: Wer an der Bushaltestelle nicht sofort das Handy zückt, kann auch mal wieder genau hinschauen und erkennen, wie die Blätter sich im Herbst verfärben oder die Schneeglöckchen im Frühling sprießen. Und wir können lernen, für diese ganz kleinen Dinge wieder dankbar zu sein.
TT-DIGI: Wie lange dauert es, um digital zu entgiften?
Daniela Otto: Das kommt auf den Einzelfall an. Vielen fällt der Entzug zunächst enorm schwer. Ich empfehle daher immer kleine Achtsamkeitsrituale im Alltag, die jeder einbauen kann und die einen enormen Unterschied machen. Ein analoger Wecker ist ein gutes Beispiel: Wer morgens nicht vom Handy geweckt wird und sofort seine Mails checkt und damit den ganzen Stress dieser Welt in sein Leben lässt, beginnt den Tag mit einer anderen ruhigen Energie. Diesen Frieden können wir dann wieder durch den ganzen Tag tragen und auch weitergeben. Ein handyfreier Tag kann der schönste Tag der Woche sein. Und ich habe gerade eine ganze Woche offline hinter mir und kann sagen: So tiefenentspannt war ich schon lange nicht mehr.
TT-DIGI: Ihr Buch soll für den Leser „heilsam“ sein. Wie ist das bisherige Feedback?
Daniela Otto: Ich bin ganz berührt von so viel positiver Resonanz. Viele schreiben mir, dass das Buch ihnen hilft und dass es „wie gerufen kommt“. Genau so ist es gedacht: Es soll dazu inspirieren, sich selbst wieder im Innersten zu begegnen. Es ist eine Seelenreise – und ich lade jeden von ganzem Herzen dazu ein.
TT-DIGI: Sind aus ihrer Sicht Verknüpfungen zu weiteren Themenbereichen möglich?
Daniela Otto: Oh ja! Ich könnte noch gleich drei weitere Bücher zu dem Thema schreiben (lacht). Im Ernst: Digital Detox betrifft fast jeden, der ein Handy hat, denn wen stresst es nicht? Und somit betrifft es alle Lebensbereiche oder anders gesagt: das gesamte Leben.
Das Interview führte Philipp Hambloch.
Das Buch
Dr. Daniela Otto: Digital Detox für die Seele. Mit Achtsamkeitsübungen bewusst online gehen.
Irisiana Verlag 2021, ISBN: 978-3-424-15421-4.
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